Zur Europawahl 2019 soll die Wahlbeteiligung steigen. Nur wen wählt man, wenn man die im EU-Parlament behandelten Fragen nicht kennt, geschweige denn die Positionen der Parteien dazu? Dafür gab es bis zum 16.05. den Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Abschaltung des Wahl-O-Mat durch das Verwaltungsgericht Köln macht deutlich, dass Wahlinformationstools aus dem Netz wirkmächtige Faktoren in Wahlkämpfen geworden sind. Ich habe ihn noch vor der Absachltung getestet und mich über das politologisch zweifelhafte Entscheidungsmodell im Algorithmus des Wahl-O-Mats kräftig geärgert.

Es soll ja Menschen geben, denen nicht alles gleichermaßen egal ist. Ist einem der Schutz der Erde vor der drohenden Klimakatastrophe beispielsweise wichtig oder hält man ihn (wie z.B. eine Fridays for Future Schüler*in) für ein alles andere in den Schatten stellendes Thema: Da wäre es doch praktisch zu wissen, welche der für das Europaparlament zur Wahl stehenden Parteien hier am meisten leistet. Immerhin muss man in diesem Fall ja nicht auf die Sperrklausel achten und kann auch eine der kleineren Parteien in Betracht ziehen. 

Für den Wahl-O-Mat ist alles binär

Der Wahl-O-Mat ist für solche Menschen leider keine Hilfe. Ihm ist nämlich egal, ob eine Partei die Emissionsziele um 5%, 15% oder 25% übertreffen will. Mehr ist mehr. Auf die Frage, ob die Klimaschutzziele erhöht werden sollen, kann man demnach nur mit Ja, Nein und Neutral antworten. Der Algorithmus gibt sich ganz retro und tut so, als könne er nur binäre Entscheidungen verarbeiten. Eins oder Null. Der Wahl-O-Mat muss so eine Partei, die sich mit 1% mehr CO2-Reduktion begnügen würde, für genauso relevant halten wie eine Partei, die einen Plan hat wie sie bis 2030 europaweit die CO2-Neutralität erreicht. Diese unnötige Reduktion relevanter Optionen auf eine binäre Frage halte ich für die größte Schwachstelle des Algorithmus.

Der  Wahl-O-Mat kann nur wichtig und doppelwichtig

Dem Wahl-O-Mat ist auch meine Prioritätensetzung relativ egal. Eine existenzielle Frage wie der Klimaschutz würde bei 40 Fragen meine Wahlentscheidung regulär zu 2,5% beeinflussen. Freundlicherweise darf ich sie doppelt werten, sodass sie - sofern ich nichts anderes doppelt bewerte - immerhin zu 4,8% mitzählt. Keinesfalls darf sie beim Wahl-O-Mat mehr als doppelt so wichtig sein, wie beispielsweise die Frage des Kompetenzausbaus von Europol. Wobei noch jeder, den ich hierzu befragt habe, diese beiden Themen in einem Verhältnis von etwa 1:10 bis 1:20 gewichten würde. 

Das halte ich für die zweite große Schwachstelle des Algorithmus: In jedem Wahlkampf geht es für Campaigner um kaum etwas anderes als Agenda-Setting - also "seine" Themen in der Themenhierarchie möglichst weit nach oben zu bekommen, weil die Themenhierarchie nachweislich wahlentscheidend ist. Der Wahl-O-Mat schwebt dagegen wider aller Wissenschaft im Themenäquilibrium, in einer Parallelwelt mit einem fast harmonischen Gleichgewicht aller Themen. Auch wieder ohne jegliche Not: Selbst Servicebewertungsportale überfordern niemanden, wenn sie mehr Bewertungsstufen als "gut" und "schlecht" anbieten. 

Der  Wahl-O-Mat sieht Übereinstimmung, wo es keine gibt

Drittes Problem des Wahl-O-Mat-Algorithmus ist, dass er tatsächlich doch nicht ganz binär, sondern eher pseudodichotom ist. Denn er bietet neben dem Überspringen (und der Nichtbewertung) einer Frage ja auch noch die Antwort "Neutral". Neutral klingt ja erstmal ganz nett - quasi nach der vermittelnden Position zwischen den Streithähnen. Diese Antwort soll laut Bundeszentrale gewählt werden, wenn man einer Frage nur unter bestimmten Bedingungen zustimmt. Nimmt man als Beispiel die Frage "Soll das Renteneintrittsalter gesenkt werden?" kann eine potenzielle Wählerin "Neutral" klicken, weil sie es fairer fände, das nicht an ein Alter, sondern an die Lebensarbeitszeit zu koppeln. Eine rechtsextreme Partei stuft sich als "Neutral" ein, weil sie meint, das solle nur für Deutsche gelten. Für den Wahl-O-Mat ist das ein "Match", eine Übereinstimmung von Klick und Parteiprogrammatik. Ich halte das für fahrlässige Irreführung. Bis vor ein paar Jahren war es beim Wahl-O-Mat sogar möglich, alle Fragen mit "Neutral" zu beantworten und dennoch eine Wahlempfehlung zu erhalten. Dass dieser Unfug heute nicht mehr geht, ist eine der wenigen positiven Veränderungen am noch aus der Jahrtausendwende stammenden Bewertungssystem des Wahl-O-Mats.

Alles eine Soße - dank Wahl-O-Mat Algorithmus

Im Ergebnis befördert dieser Algorithmus eine Nivellierung der Differenzierungsmerkmale der Parteien, sodass der Übereinstimmungsunterschied letztendlich oft im einstelligen Prozentbereich liegt. So bleibt bei den Nutzer*innen hängen, dass die Parteiprogramme sich ja kaum unterscheiden. Dass es sie nicht gibt: Die eine Partei die am besten zu mir passt. Und das soll die Botschaft sein, die mehr Menschen an die Urne bringt?

So macht man Wählen nicht leichter. Diese "Beratung" ist falsch - und obendrein auch noch klimaschädlich. Das habe ich der Bundeszentrale für politische Bildung in etwas kürzerer Form auch direkt aufs schwarze Brett geschrieben. Die Antwort:

"Der Wahl-O-Mat ist keine Entscheidungshilfe und wir "beraten" damit auch nicht. Er ist ein Tool, das spielerisch zur Beschäftigung mit Politik und den Positionen der Parteien anregen soll. Das ersetzt nicht die eigenständige und bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Wahlentscheidung oder den Themen, die einem persönlich als wichtiger erscheinen als andere."

So kann man es sich natürlich einfach machen. Wenn man die Latte nur tief genug hängt, kommt man auch ohne größere Anstrengung drüber.

Zu wichtig, um es dabei zu belassen

Wenn ich in meinem Umfeld frage, wer denn schon weiß, wen er zur Europawahl wählt, bekomme ich oft zu hören "Nein, weiss ich noch nicht, ich muss mal den Wahl-O-Mat machen". Von denen, die das Programm absolviert haben, höre ich dann "der Wahl-O-Mat hat mir überraschenderweise XYZ empfohlen. Weiß auch noch nicht genau, was ich mit dieser Information anfangen soll". Mein Umfeld gehört sicher überwiegend zu den rund 30% die angeben, sich für Politik zu interessieren. Für mich klingt das nicht danach, dass sie der Wahl-O-Mat dazu angeregt hat, sich jetzt alle Parteiprogramme zu bestellen und nochmals im Vergleich zu lesen. Für mich klingt das danach, dass selbst für die Interessierten der Wahl-O-Mat inzwischen das Convenience-Tool ist, mit dem man sich suggerieren kann, halbwegs gut informiert zu sein. Sich damit zufrieden zu geben, das ist vielleicht nicht das Ideal vom homo politicus, aber absolut menschlich. 

Weil es das ist, sollte es uns keine Ruhe lassen, wenn das populärste Wahlberatungstool so schlecht programmiert ist.

Update:

Wir haben viel Zuspruch auf die Kritik am Wahl-O-Mat erhalten. Deshalb haben wir mal demonstriert, wie ein besseres Tool aussehen könnte: 

Unser Wahltest zur EU-Wahl 2019