Bereits seit der Abgeordnetenhauswahl 2001 bietet wegewerk Wähler*innen mit dem Wahltest eine digitale Entscheidungshilfe, was den ersten Einsatz einer Voting Advice Application in Deutschland markiert. Voting Advice Applications gibt es inzwichen einige. Inzwischen gibt es sogar Standards, die eine gewisse Beratungsqualität und Unvoreingenommenheit der VAAs sicher stellen sollen. 

Absoluter Marktführer unter den VAAs in Deutschland ist dabei der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung, der zur letzten Bundestagswahl 2021 von 21,2 Millionen Teilnehmer*innen genutzt wurde, was einem guten Drittel der 61,2 Mio. Wahlberechtigten entspricht. Platzhirsch ist das staatliche Angebot nicht ohne Grund: Die als einzige aus Steuermitteln produzierte VAA wird über eine Vielzahl von Medienpartnerschaften beworben. Dabei wird mit den Medienpartnern offenbar Exkusivität vereinbart, also die Bewerbung anderer VAAs untersagt.

Problematisch daran ist, dass das Konzept des Wahl-O-Mat diverse bekannte Schwächen hat. Wesentlichste Schwäche ist aus unserer Sicht der grundlose Zwang alle Themen auf eine Ja / Nein Entscheidung zu verengen, was auch der wesentlichste Unterschied zum Wahltest ist. Richtig ist, dass in Parlamenten am Schluss auch nur für oder gegen einen Antrag abgestimmt wird. Aber der Wahl-O-Mat vergleicht nicht vergangenes Abstimmungsverhalten mit den Präferenzen der Nutzer (so wie z.B. deinwal.de), sondern Programmatik. Und da gibt es außer in politischen Systemen mit Mehrheitswahlrecht in der Regel mehr als zwei Optionen. Eine Steuer zu erhöhen, nicht zu erhöhen, zu senken oder abzuschaffen sind bereits vier grundsätzliche Positionen. Auch sollte man eine leichte Erhöhung ggf. nicht einfach mit einer Verdopplung zu einer Position zusammenfassen.

Darstellung von fünf Positionen als Punkte auf einer horizontalen rechts-links Achse, dabei werden zwei und drei Positionen jenseits einer gestrichelten Linie in der Mitte als "Gleichbehandelte Antwortmöglichkeiten" zusammengefasst.

Der Wahltest schert nicht alles über einen Kamm.

Natürlich macht das die Entscheidung komplizierter als zu fragen: "Soll die Steuer erhöht werden: Ja oder Nein?" Aber das ist nunmal das Angebot in Mehrparteiensystemen, das abgebildet werden sollte, wenn man Wähler ernsthaft gut beraten will. So ging es bei der letzten Europawahl 2019 um die Frage ob das bisherige Ziel der EU, die Emissionen bis 2030 um 40% zu reduzieren angesichts der fortschreitenden Erderhitzung angehoben werden muss. Da macht es schon einen existenziellen Unterschied ob man 5%, 15% oder 25% mehr Reduktion anstrebt. Im Wahl-O-Mat ist aber mehr gleich mehr. Auf die Frage, ob die Klimaschutzziele erhöht werden sollen, konnte man 2019 nur mit Ja, Nein oder "Neutral" antworten. Bedingt durch dieses binäre Korsett hält der Wahl-O-Mat im Dialog mit ggf. um das Klima besorgten Wähler*innen eine Partei, die sich mit 1% mehr CO2-Reduktion begnügen würde, für genauso empfehlenswert wie eine Partei, die bis 2030 Netto Null anstrebt.

Der  Wahltest kann mehr als doppelwichtig.

Ein anderes Problem ist die unzureichende Priorisierungsmöglichkeit. Der Wahl-o-Mat kann das Gewicht einer Frage nur verdoppeln. Das Gewicht einer existenziellen Frage in der Gesamtauswertung konnte 2019 bei 40 Fragen die durch die Verdoppelung von 2,5% auf 4,8% angehoben werden. Keine Frage kann auf diese Weise mehr als doppelt so wichtig sein, wie die z.B. die Frage des Kompetenzausbaus von Europol. Das entspricht nicht annähernd der Themengewichtung der Wähler*Innen wie sie sich die sich aus der demoskopischen Standardfrage nach den wichtigsten Themen in der Politik ergibt.

Verhältnis der Nennungshäufigkeit der Top-10 Themen im Eurobarometer im Vergleich mit den Priorisierungsmöglichkeiten mit Doppelgewichtung.

Das Nahezu-Äquilibrium der Themen unterstützt den Entscheidungsmechanismus daher nur unzureichend - ohne jegliche Not: Selbst Servicebewertungsportale überfordern niemanden, wenn sie mehr Bewertungsstufen als "gut" und "schlecht" anbieten. 

Beim  Wahltest ist "Neutral" kein Match.

Während der Wahl-O-Mat die ersten beiden Probleme mit vielen weiteren Voting Advice Applications teilt, die den Wahl-O-Mat nachahmen oder verbessern wollten, ist das dritte Problem ein Spezifikum des Wahl-O-Mat-Algorithmus, dass offenbar niemand übernehmen wollte. Denn tatsächlich ist das binäre Korsett doch nicht ganz binär, sondern eher pseudodichotom. Der Wahl-O-Mat bietet neben dem Überspringen (und der Nichtbewertung) einer Frage ja auch noch die Antwort "Neutral". Diese Antwort soll laut Bundeszentrale für politsiche Bildung gewählt werden, wenn man einer Frage nur unter bestimmten Bedingungen zustimmt. Nimmt man als Beispiel die Frage "Soll das Renteneintrittsalter gesenkt werden?" kann eine potenzielle Wählerin "Neutral" klicken, weil sie es fairer fände, das nicht an ein Alter, sondern an die Lebensarbeitszeit zu koppeln. Eine rechtsextreme Partei stuft sich als "Neutral" ein, weil sie meint, das solle nur für Deutsche gelten. Für den Wahl-O-Mat ist das ein "Match", eine Übereinstimmung von Klick und Parteiprogrammatik. Das ist irreführend. Bis vor ein paar Jahren war es beim Wahl-O-Mat sogar möglich, alle Fragen mit "Neutral" zu beantworten und dennoch eine Wahlempfehlung zu erhalten. Dass dieser Unfug heute nicht mehr geht, ist eine der wenigen positiven Veränderungen am noch aus der Jahrtausendwende stammenden Bewertungssystem des Wahl-O-Mats.

Der Wahltest macht nicht alle gleich.

Im Ergebnis befördert dieser Algorithmus eine Nivellierung der Differenzierungsmerkmale der Parteien, sodass der Übereinstimmungsunterschied letztendlich oft im einstelligen Prozentbereich liegt. So bleibt bei den Nutzer*innen hängen, dass die Parteiprogramme sich ja kaum unterscheiden. Dass es sie nicht gibt: Die eine Partei die am besten zu mir passt. Für diese Botschaft an die Wähler*innen gibt die Bundeszentrale für politische Bildung einen rund sechsstelligen Betrag pro Wahl aus. Die Kritik ist der Bundeszentrale bekannt. Ihre Standardantwort lautet:

"Der Wahl-O-Mat ist keine Entscheidungshilfe und wir "beraten" damit auch nicht. Er ist ein Tool, das spielerisch zur Beschäftigung mit Politik und den Positionen der Parteien anregen soll. Das ersetzt nicht die eigenständige und bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Wahlentscheidung oder den Themen, die einem persönlich als wichtiger erscheinen als andere."

Wir denken es ist an der Zeit, eine Tool das von einem guten Drittel der Wähler*innen genutzt wird, um sich vor einer Wahl zu informieren, nach 22 Jahren endlich zu verbessern. Wir wollen aufzeigen wie eine Alternative aussehen kann und haben auch bei dieser Wahl einen knapp fünfstelligen Betrag in unsere Demokratie investiert um zumindest die wichtigsten Wahlprogramme aufzuarbeiten.

  

Bei allen kleineren Parteien, die sich die Mühe gemacht haben, ein umfassendes Programm zu entwickeln, möchten wir uns vorsorglich dafür entschuldigen, dass unsere Kapazitäten nicht ermöglichen, die Programme aller kandidierenden Parteien mit zu erfassen. Der Wahltest würde in jedem Fall auch kleineren Parteien helfen, ihre Differenzierung im Detail besser sichtbar zu machen.